20

 

 

 

Draußen tobte ein Sturm, der schwere Regengüsse gegen das Fenster peitschte. Es war erst kurz nach sechs Uhr. Doch Willem hielt es nicht länger im Bett aus, obwohl er die Nacht kaum geschlafen hatte. Und er hatte schlecht geträumt. Nur daran konnte er sich erinnern, aber nicht daran, was er geträumt hatte. Der Koffer, die Reisetasche, die schwarze Tasche mit dem Geld – alles stand parat. Selbst der Revolver schien nur darauf zu warten, endlich vom Tisch genommen zu werden.

Nach einer Viertelstunde war Willem zur Abfahrt bereit. Wie angewurzelt blieb er einen Moment in dem Zimmer stehen, das bereits unbewohnt, steril und anonym wie ein Hotelzimmer wirkte, in dem er bestenfalls eine Nacht verbracht hatte. Hatte er auch nichts vergessen? Doch, den Schirm. Er hing zusammengerollt im leeren Schrank.

Willem zog die Wohnungstür hinter sich zu, ohne sich noch einmal umzuschauen. Sein Gepäck füllte den kleinen Kofferraum des Alfas aus. Schirm und Geldtasche verstaute er hinter den Sitzen, den Revolver legte er ins Handschuhfach. Er dachte kurz daran, dass der Revolver ihn bei einer Kontrolle verraten könnte. Aber er könnte ebenso wenig die Geldbündel hinter seinem Rücken erklären. Und eigentlich war ihm alles egal. Völlig durchnässt stieg er ins Auto.

Den Wohnungsschlüssel warf Willem durch den Briefschlitz des Maklerbüros, ohne Umschlag, Gruß und Kommentar. Er hielt noch bei einem Zeitschriftenhändler in der Old Brompton Road an, ließ den Motor laufen, kam nach zwei Minuten mit der »Times« zurück und fuhr nach Westen Richtung Stadtautobahn. Nur schemenhaft konnte er die Häuser links und rechts erkennen. Regen und Dunkelheit verwischten seinen letzten Blick auf London.

Angestrengt klemmte Willem hinter dem Lenkrad. Verzweifelt kämpften die kleinen Scheibenwischer gegen den Regen an. Wegen des Unwetters konnte er nicht schnell fahren. Dennoch geriet der leichte Wagen immer wieder ins Schwimmen, so dass Willem alle Mühe hatte, ihn in der Spur zu halten. Schier endlos zog sich die Fahrt dahin. Je weiter er sich von London entfernte, desto tiefer hing der schwarze Himmel, der auf die schwarz-grünen Hügel seitlich der grau glänzenden Straße drückte und den nahen Horizont verschlang.

Am liebsten wäre er umgekehrt. Doch er durfte nicht nachgeben, sagte sich Willem. Denn er konnte nicht bleiben, er musste weiter, auch wenn ihm immer gleichgültiger wurde, ob am Ende der Fahrt ihn Sieg oder Niederlage erwarteten. Er wollte nur von sich aus nicht aufgeben. Nur das trieb ihn an.

Dann wurde es heller, der Regen weniger, aber der Wind noch heftiger. Die ersten Hinweisschilder auf den Kanaltunnel vibrierten im Sturm, häuften sich, bis ein Wald von Laternenmasten auf einer asphaltierten Anhöhe den Eingang zum Tunnel grell markierte.

Willem hatte Glück. Er konnte ein Ticket für den nächsten Zug lösen. Eine halbe Stunde später rollte der weiße Alfa über die scheppernden Metallböden des Waggons. Die Türen wurden verriegelt, dann ein leichter Ruck, aber im gleißenden Neonlicht verlor Willem jedes Gespür dafür, dass der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

Er schlug die »Times« auf. Auf Seite vier blieben seine Augen haften: »Hewitt-Mord vor der Aufklärung.« Hastig las er weiter: »Der bekannte Kunst- und Antiquitätenhändler Henry Hewitt wurde offenbar das Opfer russischer Krimineller. Der Tat dringend verdächtig ist der russische Student Michail Karatajew (26). Er soll gemeinsam mit seinem Komplizen Nikita Sergeij Basarow Hewitts Tochter Patricia entführt haben. Nach Angaben der Polizei schoss Karatajew auf Hewitt, als es bei der geplanten Lösegeldübergabe zu einem Schusswechsel kam. Hewitt verletzte dabei Nikita Basarow, wie eine eingehende Untersuchung von Basarows Leiche ergab, die vor wenigen Tagen in Süd-London gefunden wurde. Michail Karatajew wird auch von der Polizei beschuldigt, seinen schwer verletzten Komplizen erstickt zu haben. Den weißen Lieferwagen, der bei der Entführung benutzt wurde und auf Karatajews Namen angemeldet ist, konnte die Polizei bereits sicherstellen.«

Willem schlug seinen Kopf gegen das Lenkrad. Er kurbelte das Fenster runter, schnappte nach Luft. Das Neonlicht im Zug blendete ihn. Er hatte es doch gleich gewusst: Michail war die Schwachstelle. Und sein weißer Lieferwagen. Aber warum war die Polizei erst jetzt auf Michail gekommen? Hatte ihr jemand einen Tipp gegeben? Willem schnappte weiter nach Luft. Was würde Michail jetzt tun? Ob er sich der Polizei stellte?

Wahrscheinlich nicht. Er müsste schon ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen können. Der einzige Trost war: Die Polizei glaubte immer noch, dass neben Nikita ein weiterer Mann an der Entführung beteiligt gewesen war. Anne-Marie hatte wohl Pia auf dem dunklen Parkplatz für einen Mann gehalten. Und ihre Tochter war entweder nicht vernommen worden, oder die Polizei hatte ihr nicht geglaubt, weil sie es schlichtweg für unmöglich hielt, dass eine Frau Hewitt erschossen hatte und vor allem dass eine Frau Nikita erstickt und anschließend auf die Gleise geschleppt hatte. Aber Michail würde in jedem Fall verhört, gleich ob er sich selbst der Polizei stellte oder die Polizei ihn verhaftete. Willem glaubte, immer weniger Luft zu bekommen. Wann verließ der Zug endlich den Tunnel? Wann konnte er endlich raus aus dieser verfluchten Röhre?

Es war wie eine Ewigkeit, bis der Zug die Oberfläche erreichte und sich die Wagen vor ihm im Waggon einer nach dem anderen in Bewegung setzten. Willem drehte den Zündschlüssel um. Sein Alfa sprang nicht an! Willem versuchte es nochmals. Doch nichts rührte sich. Erst nach zwei weiteren Versuchen röhrte der Motor auf. Aber Willem ließ die Kupplung zu schnell kommen, so dass der Alfa einen Satz nach vorne machte und wieder ausging. Er drehte wieder den Zündschlüssel, trat mehrmals das Gaspedal kräftig durch, der Motor blieb an. Endlich konnte auch Willem den Zug verlassen.

Frankreich empfing ihn mit einem von Wolken verhangenen Himmel. Aber es regnete wenigstens nicht. Willem war sich nicht sicher, welche Richtung er nehmen musste. Stur folgte er der Kolonne vor ihm, bis ein Hinweisschild nach Belgien ihm die Entscheidung erleichterte. Er hatte seit mehr als zwei Jahren sein Heimatland nicht gesehen, und auch damals nur kurz, um seine Kündigung in Empfang zu nehmen. Flach breitete es sich vor ihm aus.

Heimatland? Gut, er war immer noch Belgier, und er konnte sich auch nicht vorstellen, etwas anderes als Belgier zu sein. Aber Heimatland? Andererseits passte das Land zu ihm, dachte Willem, mit seinen zwei Kulturen, die zu einem nicht recht fassbaren Ganzen verschmolzen waren. Aber Belgien war ihm dennoch fremd geworden. Es war nicht mehr sein Zuhause.

Das war auch nicht England. Sein Zuhause war London. London gehörte ihm wie er London gehörte. Denn die Stadt empfing alle Fremden, die kamen und dort leben wollten, gleich welcher Nationalität, mit gerechter Gleichgültigkeit. Alles hing von einem selbst ab. In London, dachte Willem, konnte sich jeder neu erfinden.

Je länger Willem durch Belgien fuhr, desto stärker hatte er das Gefühl, wieder von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden. Gent, Brüssel, Antwerpen, die Ortsnamen auf den Schildern markierten auch Stationen seines Lebens, aber eines bereits abgelegten Lebens, das er nicht mehr aufnehmen wollte. Er musste weiter, unbedingt.

Nur einmal hielt er kurz auf belgischem Boden an, um zu tanken, zu essen und Kaffee zu trinken. Es war merkwürdig für ihn, wieder Flämisch zu sprechen. Die Worte, seine eigene Stimme klangen fremd in seinen Ohren. Zum ersten Mal wurde Willem bewusst, dass er seit langem englisch dachte.

Gleich hinter der deutschen Grenze wurde der Verkehr dichter und aggressiver. Willem fühlte sich an die Rushhour in London erinnert, und die Deutschen kamen ihm wie die Londoner Pendler vor, das gleiche Ameisenvolk. Gleichgültig durchquerte er das Land in Richtung Süden.

Am späten Abend passierte Willem die Schweizer Grenze. Am erstbesten Rasthaus hielt er an. Er mietete sich ein Zimmer, das noch kleiner war als seins in London.

Willem ging gleich zu Bett. Eine Tüte Erdnüsse und ein Bier aus der Minibar waren sein Abendbrot. Er schaltete einen Musiksender ein, stellte den Ton aber ab. Während er auf die hektischen Bildfolgen der Videoclips starrte, ging er in Gedanken nochmals den Artikel aus der »Times« durch und überlegte, was Michail über ihn wusste. Eigentlich war es nicht mehr als sein Vorname, und dass er Belgier war und als Journalist gearbeitet hatte. Mehr konnte es nicht sein, falls Nikita nicht mit Michail über ihn und die Entführung gesprochen hatte.

Er nahm sich vor, am nächsten Morgen nach Zürich weiterzufahren, um dort sein Lösegeld auf einer Schweizer Bank zu deponieren, und schlief dann vor laufendem Fernseher ein.

»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«

Eine attraktive Blondine, vielleicht Mitte bis Ende zwanzig, warf Willem mit zartroten Lippen ein freundliches Lächeln entgegen. Willem hatte eigens einen Anzug angezogen. Dennoch kam er sich recht deplaziert vor. Vor allem die schwarze Sporttasche mit der weißen Aufschrift »Chelsea Health Club«, dachte Willem, passte ganz und gar nicht zu der unterkühlten und distinguierten Atmosphäre der reich mit Messing und Marmor ausgestatteten Schalterhalle. Aber niemand schien daran Anstoß zu nehmen, nicht einmal der uniformierte Wachmann, der ihm höflich die Tür aufgehalten hatte. Sich über nichts zu wundern, schien zum Geschäftsgebaren Züricher Banken zu gehören.

Willem überlegte einen Augenblick. Sein Deutsch war nicht mehr das Beste, auch wenn er gelegentlich deutsche Zeitungen las.

»Ich bin gekommen, um ein Konto zu eröffnen.«

»Wenn Sie bitte hier Platz nehmen möchten.« Die Blondine zeigte auf eine Sitzgruppe aus schweren schwarzen Lederpolstern. »Ich werde sofort den zuständigen Manager verständigen.«

Willem war zu nervös, um sich zu setzen. Er blieb stehen und wartete, bis die Blondine das Telefonat beendet hatte. Wieder lächelte sie.

»Der Manager kommt jeden Moment.«

Eine Minute später kam ein großer schlanker Mann in einem dunkelblauen, akkurat sitzenden Anzug auf ihn zu. Sein schütteres Haar hatte er mit Pomade straff zurückgekämmt.

»Guten Tag, ich bin Dr. Meyer. Sie wollen bei uns ein Konto eröffnen?«

Willem brachte nur ein knappes Ja heraus.

»Wenn Sie mir bitte in mein Büro folgen wollen. Dort sind wir ungestört.«

Wenig später saß Willem diesem Herrn Meyer an einem Mahagonischreibtisch gegenüber. Ohne danach gefragt zu werden, erzählte Willem, dass er gerade aus London angekommen sei. Der Bankmanager wechselte sofort in ein akzentfreies Englisch über.

»Darf ich fragen, welchen Betrag Sie bei uns hinterlegen wollen?«

»Vierhundertfünfzigtausend Pfund.«

Den Rest des Geldes wollte Willem behalten, um auf der Reise flüssig zu sein.

»Ich vermute, Sie haben das Geld bei sich.«

Dr. Meyer zwinkerte Willem zu und sah auf die Sporttasche, die zu Willems Füßen stand und die er immer noch mit der linken Hand festhielt. Dann hob der Manager zu einem kleinen Vortrag an, in dem er Willem mit den Gepflogenheiten eines Schweizer Kontos vertraut machte. Falls Willem es wünsche, könne er selbstverständlich jeder Zeit über den hinterlegten Betrag verfügen. Dafür sei nur ein Codewort erforderlich. Allerdings dürfe er nicht mit Zinsen rechnen. Vielmehr würde die Bank eine Gebühr für die Führung seines Kontos erheben.

»Da Sie, wie Sie sagten, häufig in London zu tun haben, dürfte es für Sie vielleicht auch interessant sein, dass Sie auch dort Geld von ihrem Konto abheben können. Wir haben zu diesem Zweck eine diskrete Vereinbarung, wenn Sie verstehen, was ich meine, mit einer Privatbank getroffen. Sie brauchen uns nur telefonisch zu informieren, wie viel sie von ihrem Konto abheben wollen, und können am nächsten Tag ohne jede Formalitäten die gewünschte Summe in London in Empfang nehmen. Allerdings müssen wir für den Transfer eine Gebühr erheben. Welches Codewort wünschen Sie?«

»Holland Park«, antwortete Willem spontan.

Meyer nannte ihm daraufhin den Namen und die Anschrift der Londoner Privatbank.

»Ich denke, es ist überflüssig, Sie zu bitten, diese Information vertraulich zu behandeln.« Er reichte Willem ein Formular zur Unterschrift. »Ich freue mich, dass Sie unserem Institut Ihr Vertrauen schenken.«

Meyer rief dann einen weiteren Angestellten in sein Büro, der aus Willems Tasche das Geld nahm und in Windeseile zählte.

Gerne hätte Willem noch den Manager gefragt, ob auch ein gewisser Henry Hewitt zu seinem Kundenkreis gehörte und wie viel Geld dieser Hewitt deponiert hatte. Aber er wusste natürlich, dass er auf diese Frage nie und nimmer eine Antwort bekäme.

»Das wäre eigentlich alles«, sagte Dr. Meyer.

Willem bedankte sich.

»Wir danken Ihnen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in der Schweiz.«

Als Willem die Bank verlassen hatte, schaute er auf die Uhr. Keine fünfzehn Minuten hatte er sich in der Bank aufgehalten. Die schwarze Sporttasche knüllte er zusammen und stopfte sie in den erstbesten Abfallbehälter. Weitere fünf Minuten später saß Willem wieder in seinem Alfa, um nach Sils-Maria weiterzufahren. Er hatte am Frühstückstisch einen Reiseführer über die Schweiz durchgeblättert, und der Ort war ihm, vielleicht wegen seines klangvollen Namens, im Gedächtnis haften geblieben.